ECTS
Das European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) sollte nach dem Willen der europäischen Bildungsminister als wesentliches Mittel zur Erreichung der Ziele des BolognaProzesses dienen. Hierzu wurde jeder Lehrveranstaltung eine fixe Zahl an Creditpunkten zugeordnet, deren Höhe sich am Arbeitsaufwand (Workload) bemisst. Im Laufe der Umstellung wurde ECTS mit einer Vielzahl verschiedenster Funktionen verbunden. Hier gilt es aber zu unterscheiden, welche der Funktionen überflüssig oder gar schädlich sind und welche sinnvoll.
Negative Auswirkungen
Durch das Konzept des Workloads, die Zuordnung von Creditpunkten zu Lehrveranstaltungen und beim Studierverhalten treten folgende schädliche Effekte auf. Der Workload wurde mit der Einführung von ECTS zu einer zentralen und sichtbaren Größe in allen Studiengängen. Die Berechnung der mittleren zeitlichen Arbeitsbelastung sollte dazu dienen, die Studierenden vor Überlastung zu schützen. In der Praxis hat sich gezeigt, dass ECTS-Punkte diese Funktion nicht erfüllen können. Im Vergleich zum alten Studienmodell wurde die Veranstaltungs- und Prüfungsdichte in vielen Fächern deutlich erhöht. In vielen Studiengängen ist die subjektive Überbelastung von Studierenden sogar erst dadurch entstanden, dass die geforderte zeitliche Belastung explizit gemacht wurde. Insbesondere ist der im Schnitt zu leistende Arbeitsaufwand kein taugliches Maß für die Beurteilung von Studienerfolg. Die aufgewandte Zeit ist für den individuellen Bildungs- und Erkenntnisfortschritt nur peripher von Bedeutung.
Die Zuordnung von Creditpunkten (CP) zu Lehrveranstaltungen hat eine stark normierende und restringierende Wirkung: Pro Studiengang müssen bestimmte CP-Zahlen erreicht werden (im Bachelor zwischen 180 und 240 CP, im Master zwischen 60 und 120 CP), pro Studienjahr müssen im Vollzeitstudium 60 CP im Studienplan vorgesehen sein. Gleichzeitig ist die Mindestmodulgröße deutschlandweit auf fünf CP festgelegt und polyvalente Module müssen in verschiedenen Studiengängen mit der jeweils gleichen CP-Zahl eingeplant werden. Bei der Konzeption von Studiengängen geht die Erfüllung der rigiden Formvorgaben zu Lasten der Erstellung fachlich sinnvoller Studiengänge. Zentrale fachliche und fachdidaktische Gesichtspunkte werden gegenüber formal-administrativen Aspekten vernachlässigt. (Vgl. Stefan Kühl, Der Sudoku-Effekt, transcript Verlag, Bielefeld 2012.) Eine fachlich begründete, geringfügige Modifikation in einem Modul hat somit sofort massive Auswirkungen auf alle anderen Module des Studiengangs, bei Polyvalenzen sogar auf eine Vielzahl weiterer Studiengänge. Da auf verschiedenen Ebenen (Studiengang, Semester etc.) jeweils auf den Punkt genau bestimmte CP-Werte erreicht werden müssen, wird es im Effekt fast unmöglich, bestimmte Änderungen an einmal bestehenden Studiengängen vorzunehmen.
ECTS sollte die Mobilität von Studierenden im Europäischen Hochschulraum befördern. Doch für die Mobilität von Studierenden ist ein restriktives und rigides Konzept wie ECTS nicht nötig und auch nicht hilfreich. Bei strikter Anwendung kann der Großteil der auswärtig erbrachten Leistungen im neuen Studiengang überhaupt nicht oder nur mit großen Verlusten angerechnet werden. Setzt sich an Universitäten und Hochschulen die Erkenntnis durch, dass eine solche Handhabe gänzlich unpraktikabel ist, wird die CP-Zahl nurmehr als ungefährer Orientierungswert gebraucht. Es entsteht die paradoxe Situation, dass das CP-System inneruniversitär unter Inkaufnahme weitreichender negativer Konsequenzen strikt und exakt durchgesetzt wird, bei der Anrechnung von Studienleistungen hingegen meist nach dem Grundsatz "Pi mal Daumen" verfahren wird. Die Grundintention wird hier auf den Kopf gestellt.
Die Vergabe von CP für Lehrveranstaltungen bzw. Prüfungsleistungen erweckt bei Studierenden den falschen Eindruck, Bildung bestehe allein aus abprüfbarem Wissen und lasse sich durch die Anhäufung eben dieser Wissensbausteine in Form von Modulen kumulativ erwerben. Studierende sind somit nicht mehr intrinsisch durch Neugier oder Begeisterung für das Fach motiviert, sondern Prüfungsrelevanz und effizienter Punkteerwerb bestimmen als extrinsische Faktoren das Studierverhalten. Universitäres Studium droht so zu sinnentleertem Punktesammeln zu verkommen. Persönlichkeit zu bilden und Erkenntnis zu erlangen, sind aber Prozesse und lassen sich weder in Form von Punkten quantifizieren noch in abgeschlossene Pakete zusammenschnüren.
Aus diesen Gründen lehnt der Konvent der Fachschaften der LMU München ECTS ab. Dieses System ist nicht dazu geeignet, die gewünschten Funktionen zu erfüllen, bringt erhebliche Probleme mit sich und ist auch in der Praxis gescheitert. ECTS stellt aber immerhin einen Versuch dar, für die Anrechnung auswärtig erbrachter Studienleistungen eine Hilfestellung an die Hand zu geben. Diese der Idee nach sinnvolle Funktion sollte und kann aber auf andere Weise erfüllt werden.
Lösungsansatz
Für die Anrechnung auswärtig erbrachter Leistungen sind primär qualitative Informationen von Bedeutung: Welche fachlichen Inhalte, Veranstaltungs- und Prüfungsformen sind im gesamten Studiengang vorgesehen und wie viele eines jeden Typs sind im Studienverlauf zu absolvieren? In der Gesamtschau des Studiengangs kann dann eingeschätzt werden, welche Bedeutung dem Anteil zukommt, den sich der jeweilige Studierende anrechnen lassen will. An quantitativen Informationen ist für die Anrechnung von Studienleistungen lediglich das Notengewicht als internes Verrechnungsmaß von Bedeutung. In der Berechnung der Endnote sollte dieses aber allein nach der Relevanz der studienbegleitend erbrachten Leistungen für die Gesamtqualifikation bemessen werden. Die Kopplung von Notengewicht und aufgewandter Arbeitszeit ist nicht sinnvoll. Studienbegleitendes Prüfen ist erstrebenswert, lässt sich aber unabhängig von Berechnungen des Arbeitsaufwands durchführen und anrechnen.
Über den zu erwartenden Arbeitsaufwand einer Veranstaltung und wie sich dieser auf das Semester verteilt, können Dozierende bei Bedarf auf anderen Wegen adäquat und ohne die beschriebenen negativen Effekte informieren.